Auch FREIRAD 105.9 beteiligt sich heuer am Aufruf zur weltweiten Lesung der Berichterstattung von Anna Politkowskaja. Die Journalistin und Putin-Kritikerin wurde am 7. Oktober 2006 in Moskau ermordet.
FREIRAD 105.9 sendet eine Lesung des Textes „Machkety. Ein Konzentrationslager mit kommerziellem Einschlag“ von Elfriede. Jelinek.
Die Peter-Weiss-Stiftung für Kunst und Politik mit Sitz in Berlin ruft zum zweiten Mal Kulturinstitutionen, Theater und interessierte Personen zu einer weltweiten Lesung am 20. März auf. Ziel der damit verbundenen Veranstaltungen und Aktionen soll sein, das Bewusstsein über Inhalte und Formen politischer Kommunikation zu erhellen. Weil auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Lüge zum Instrumentarium bestimmter politischer Formationen gehört, muss deutlich gemacht werden, dass die Kräfte nicht erlahmen, die sich gegen sie verwahren.
Anna Politkowskaja beschrieb in ihren Reportagen die Katastrophe des zweiten Tschetschenienkrieges und den Kriegsalltag nach ihm, der mit fadenscheinigen Begründungen begonnen und äußerst brutal durchgeführt wurde. Ihre Texte schildern Folterszenen, rekonstruieren kaltblütige Morde, prangern den Zynismus von Bürokraten an, schildern das Leid und die Verzweiflung der Zivilbevölkerung, die zwischen Armee und Rebellen aufgerieben wird und geben ein beklemmendes Bild vom Klima der staatlich geschürten Angst und Repression in Russland.
Für die Lesungen am 20. 03. 2007 ist die Textauswahl „Machkety. Ein Konzentrationslager mit kommerziellem Einschlag“ und „Sonderoperation Sjasikow“ (aus: „Tschetschenien. Die Wahrheit über den Krieg“, aus dem Russischen von Hannelore Umbreit und Ulrike Zemme, © 2002 Anna Politkovskaja, © 2003 DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln) vorgesehen. Diese Textpassagen können für die weltweite Lesung am 20. März 2007 bei Bereitstellung eines Büchertisches honorarfrei verwendet werden.
Aus Anlass des dritten Jahrestages des Kriegsbeginns im Irak hatte die Peter-Weiss-Stiftung erstmalig am 20.03.2006 eine weltweite Lesung initiiert. An diesem „Jahrestag der politischen Lüge“ wurde Eliot Weinbergers „Was ich hörte vom Irak“ an 47 Veranstaltungsorten weltweit vorgetragen – in Australien, den USA, Deutschland, Griechenland, im Libanon, in Großbritannien, den Niederlanden, Italien, Luxemburg, Indien und der Schweiz.
BACKGROUND
Anna Politkowskaja wurde als Tochter von sowjetischen UN-Diplomaten 1958 in New York geboren. Sie studierte an der Moskauer Universität Journalismus und arbeitete für verschiedene Zeitungen wie die „Iswestja“, seit dem Ende des kommunistischen Systems für unabhängige Blätter, darunter die „Obschtschaja gaseta“. Zuletzt war sie Sonderkorrespondentin der kleinen oppositionellen „Nowaja Gaseta“.
Für diese Zeitung arbeitete Anna Politkowskaja seit 1999, als Putin Premierminister wurde und der so genannte zweite Tschetschenienkrieg begann: Zwei Ereignisse, die eng miteinander zusammenhängen und eine unheilvolle Entwicklung auslösten, wie Politkowskaja in ihren beiden Büchern „Tschetschenien: Die Wahrheit über den Krieg“ (2002) und „In Putins Russland“ (2004) darstellte.
Die kleine nordkaukasische Bergregion Tschetschenien hatte 1991 ihre Unabhängigkeit von Russland erklärt und sie im Friedenvertrag von 1996 – nach dem ersten Krieg, von dem die Medien noch frei berichteten – auch erhalten. Die Unabhängigkeit der abtrünnigen Kasachen wurde von russischer Seite als Niederlage, wenn nicht sogar als bittere Schmach wahrgenommen. Als dann 1999 ein tschetschenisches Kommando unter der Leitung von Rivalen des damaligen Präsidenten Maschadow in Dagestan auf russisches Gebiet einfiel, schien die russische Vorherrschaft im Nordkaukasus in Gefahr. Wenig später wurden in Moskau zwei blutige Sprengstoffanschläge verübt. Als Täter wurden bald Tschetschenen ausgemacht – ein Verdacht, der sich bis heute nicht erhärtet hat. Putin, damals Chef der KGB-Nachfolgeorganisation FSB, reagierte mit einer „Antiterror-Operation“: dem Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges. Als Antwort auf die Demütigung Russlands und als Versprechen, wieder Größe zu zeigen, nutzte Putin den Krieg zu seinem politischen Aufstieg. Im Jahr 2000 wurde er zum Präsidenten der russischen Föderation gewählt.
Seitdem beobachten Organisationen wie „Reporter ohne Grenzen“ eine zunehmende Auflösung bzw. Gleichschaltung der freien und unabhängigen Medien in Russland. Wirtschaftliche Einflussnahme kremlnaher Netzwerke, bürokratische Behinderung und ein Klima der Bedrohung sorgten dafür, dass Russland auf der „ROG-Rangliste zur weltweiten Situation der Pressefreiheit“ auf Platz 140 (von 167) steht. Aus Tschetschenien ist nach wie vor keine freie Berichterstattung möglich.
Seit den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center am 11. September 2001 konnte sich Putin einer internationalen Allianz zugehörig fühlen. Er schloss sich dem von Bush propagierten „Krieg gegen den Terrorismus“ an. Im selben Jahr wurde der Krieg in Tschetschenien offiziell für beendet erklärt. „Putin begann zu versuchen“, erklärte Anna Politkowskaja in einem Interview mit dem „Guardian“, „der Welt zu beweisen, dass er gegen internationale Terroristen kämpfte, dass er nur Teil eines allgemein gebilligten Krieges war. Und er hatte Erfolg. Es war widerwärtig, als er zu erklären begann, dass wir bei der Geiselnahme in Beslan buchstäblich die Hand Bin Ladens sehen. Was hat Bin Laden damit zu tun?“
Mit ihrer Berichterstattung versuchte Politkowskaja zu zeigen, dass der Krieg noch nicht beendet war, sondern dass Gewalttaten und Menschenrechtsverletzungen unvermindert anhielten. Sie hielt besonders die Zivilbevölkerung im Blick, die zwischen beiden kämpfenden Parteien aufgerieben wird, und sie beschrieb den sich selbst verstärkenden Kreislauf der Gewalt. Ihre Schilderungen erhellen die perversen Mechanismen des Krieges, exponieren die Bedingungen, unter denen diese funktionieren, und prangern die Nutznießer an.
Ihr letztes Buch schließt mit einer Kritik, die sich an den taktierenden und täuschenden politischen Verantwortlichen vorbei an die Gesellschaft richtet: „Ihr sagt immer nur ‚El Kaida’, ‚El Kaida’. Ein verdammter Slogan. Es ist das Einfachste, die Verantwortung für jede neue blutige Tragödie wegzuschieben. Es ist das Primitivste, womit man das Bewusstsein einer Gesellschaft einlullen kann, die davon träumt, eingelullt zu werden.“ (aus: „In Putins Russland“, S. 314)
Für ihre Arbeit wurde Politkowskaja mit vielen ausländischen Preisen geehrt. 2003 erhielt sie den ersten „Lettre Ulysses Award“ für die beste Reportage sowie die „Hermann-Kesten-Medaille“. 2004 wurde sie mit dem „Olof-Palme-Preis“ geehrt, und ein Jahr später wurde ihr der „Preis für die Freiheit und Zukunft der Medien“ verliehen. In Russland erhielt sie 2001 den „Preis der Journalistenunion“. In ihrem Heimatland sah sie sich aber auch ständigen Einschüchterungsversuchen und Drohungen ausgesetzt. Doch einen Leibwächter lehnte sie ebenso ab wie die Flucht ins Exil. 2004 wurde sie Opfer eines Giftanschlages. Am 7. Oktober 2006 erschoss sie ein unbekannter Täter im Aufgang ihres Moskauer Wohnhauses. Die Unterlagen zu ihrem letzten Artikel verschwanden. Anna Politkowskaja hinterlässt zwei Kinder.
mehr infos unter: www.peter-weiss-stiftung.de